« ... B o r i s ... Y o f f e ... »
( Gesichtsabdruck )
nach unten... in jeder Beziehung...
— Stille. ...manchmal bin ich allein, und die Musik hört auf — das heutige Quartett-Stück oder das von Morgen, oder ein vergessenes, ungeschriebenes — und niemand hört zu — dann spiele ich aus der Kunst der Fuge, den Englischen Suiten, dem Wohltemperierten Klavier... und dann kommen plötzlich diese Momente, in denen du dich auf einmal in der Carmini findest, vor Cima, oder du gehst an den Kebab-Läden vorbei zu San Francesco, ohne es glauben zu können, gleich den Paradiesgarten und das Kind mit seinem roten Spielzeug-Rädchen zu sehen (man könnte denken, dass die Madonna auf das Kind schaut, aber ich weiss, dass ihre Augen geschlossen sind) — oder du stehst im Schatten des weißen Glockenturms von San Pietro (beim Verlassen der Insel siehst du, wie die Kathedrale und der Turm sich leicht zu einander neigen, wie ein sich an den Händen haltendes altes Ehepaar) — oder du wirst plötzlich von dem Atem einer nicht-irdischen wüsten Strenge durchtränkt, in der Nähe der Madonna del Orto, wo eine Kälte weht auch am heißesten Tag — oder du hältst dich mit deinem Blick an einem Bild in Il Redentore fest, um dich nicht in der Symmetrie des Raumes aufzulösen — oder du sitzt, scheinbar schon seit Stunden in der leeren San Nicolò. ...Ein Engel, von einem toskanischen Bildhauer gearbeitet... Barmherzigkeit und Hoffnung auf Francesco Veniers... Johannes der Täufer schaut verkehrt herum in das Buch..., ob er lesen kann?..
— Boris Yoffe, 7 august 2016 (Wasser)
— Brot (an Clebnikow). — Oh, großer Vorsitzende der Erdkugel, erhabener Zukünftler!..
Wie soll ich mich vorstellen, welche Koordinaten soll ich angeben? Das jetzige Jahr hat eine Zahl, die zeigt, dass schon über Hundert Jahre seit Madame Lenin, ja auch Genosse Lenin vergangen sind. Würdest Du es für Zu-kun-ft halten?.. Tatsächlich?.. — Du, der über die Bretter des Schicksals ging, hast ja keinen Bericht über diese hundert Jahre nötig, in denen Dummheit und Sadismus sich so entfaltet haben, dass eine Pestepidemie daneben ein Spaziergang wäre. Und über die technischen Errungenschaften braucht man Dich vermutlich nicht zu unterrichten - über die nicht-greifbaren Teilchen, die die Explosionsenergie befreien, über das Zaubernetz, das l’Origine du monde auf der ganzen Erdkugel verstreut... Also erlaube mir bitte nur einen zweifelnden Gedanken mit Dir — der alles weiß und alles versteht — zu teilen... Mir scheint, es ist hier eben keine „Zukunft“, es gibt sie nicht — als Zielhafen, Auflösung, Rechtfertigung einer „Gegenwart“ — es gibt auch kein Vorn — von dem leeren Wort, von der Vorstellung abgesehen — einer dummen Chimäre, sonorh-C, der eigene Oheime frisst. Schau, ich stehe jetzt in diesem Jahr 2016 oder wie auch immer man es beziffern mag — und bei mir sind Deine überrationalen Gedichte, die Delirium-Krämpfe eines alkoholvergifteten Mussorgskys, die infantilen Visionen des Autisten Bruckners, die verzweifelten Liedchen des Syphilitikers Brüderl Schuberts,die närrisch-erotischen winzige Menuette Mozarts-Haydns, die durch Bach mit Inbrunst verzierten fleißigen pietistischen Versen, durch Palestrina gegen den Uhrzeigersinn gedrehten hypnotischen Zaubersprüche der müden Zölibaten-Träger, — schließlich die Märtyrerin Catharina mit ihrem Rad und der aufgeregte Schwätzer Paulus auf den Bildern Cimas, eine im Wasser gebaute Stadt... — und sonst nichts...
— Boris Yoffe, 7 august 2016 (fluss)
— Wasser. « Venezianische Philosophie » — das klingt lächerlich, sogar auf den ersten Blick. Für Menschen, die Generation für Generation die Fähigkeit kultiviert haben, nicht nur verbal zu denken, sondern — mit unmittelbarer künstlerischen Intuition (mit Farbe, Licht, Komposition, Rhythmus, Beziehung, Struktur), sich mit der Idee-Materie-Problematik anschaulich auseinander zu setzen (Invariante und Unendlichkeit der Varianten, Gesetzmäßigkeit und Zufall), — dabei hat das Künstlerische für sie ihre byzantinische Verbindung mit dem Sakralen nicht verloren, d.h. es war eher ein lebendiges Symbol als eine geistvolle Unterhaltung, — für solche Menschen ist der Versuch einer verbalen Modellierung des Wesentlichen unzureichend, zum Misserfolg verurteilt, um nicht zu sagen infantil und vulgär. Ihre Philosophen oder eher Metaphysik-Praktiker waren Calendario, Carpaccio, Cima, Bellini, Lombardo, Lotto, Codussi, die die Tradition der nicht-verbalen Sprache bewahrt und sie auch erneuert haben, jeder mit seiner scharf umrissenen und sich vollkommen entfalteten Individualität. — Die Wortströme, die damals von den Druckmaschinen auf der Insel geflossen waren, zweifellos manchmal hinreißende und brillante, haben letztendlich die Praktiken der nonverbalen Spekulation hinweggespült, sodass die einzelnen Höhen der wortfreien Philosophie (der venezianischen wie auch der westeuropäischen, wobei hier es vor allem deutsche Musik war — Bach, Haydn, Mozart, Schubert und Bruckner, wieder Bach...) sich über dieses Gewässer erhoben haben wie unbesteigbare Gipfel. Ab Wagner ist die Kunst wohl verbalisierbar geworden, um sich schon bei den nachfolgenden zwei Generationen ganz mit philo- , anthropo- , theo- , historiosophischen, psychoanalytischen, musik- , kunst-, literaturwissenschaftlichen und schlicht propagandistischen Texten zu vermischen, bis hin zur Konsistenz einer Brühe, eines Borschtsch, eines Komposts und Erbrochrenes, in dem wir heute noch zappeln. Und auch morgen..., wahrscheinlich...
— Boris Yoffe, 9 august 2016 (Still)
— Linie. nicht sehen“ bedeutet das gleiche wie „sehen“... — Das Sichtbare kann man erforschen, aber der Übergang zu seiner unsichtbaren Seite — seinem Wesentlichen, seiner Wurzel, Form, Ursache, Seele... — ist ein Sprung, ein Dimensionswechsel: es lässt sich erforschen, wie ein Grammophon funktioniert, die Vertiefungen einer Schallplatte lassen sich messen, es wird aber nichts über die auf der Schallplatte aufgenommene Symphonie Bruckners aussagen, man kann ein Buch wiegen, alle Zeichen in ihm zählen und die Chemie der Tinte analysieren, es baut aber keine Brücke zu dem in ihm erzählten Märchen über die Hirtin und dem Schornsteinfeger (was ist überhaupt mit «Buch» gemeint — der materielle Gegenstand oder der Inhalt, und wenn Inhalt, dann als eine Summe an Wörtern oder als eine einheitliche, Idee, Gestalt, ein von der Sprache letztendlich unabhängiges Wesen, das sich dazu in einem idealen — unsere unvollkommene Wahrnehmung oder die göttliche absolute Ratio? — Raum befindet? die mit dem Lesen verbundene individuelle Erfahrung des künstlerisches Erlebnisses? allein schon die Möglichkeit einer solchen Erfahrung? die tautologischen Zaubersprüche Information, Energie?..) Die Realisation des Unsichtbaren braucht eine entsprechende Umwelt: die Wahrnehmung, sie formt letztendlich die Realität, in dem sie einem Steinbrocken die Möglichkeit gibt, eine Skulptur zu sein, einer Luft-Bewegung oder einer Zeichenreihe zu Sprache zu werden, zu Musik..., und weiter — zu Sinn.
— Борис Йоффе, 26 мая 2016 (шаги)
— Ausgang. — Sterblich ist alles... Dieser Annahme folgend muss man aber sagen, dass auch der Tod sterblich ist (gleich einer schönen Melodie auf einer kupfernen Geige)... Unser Bewusstsein kann an einen absoluten Ausnahmefall nicht glauben, es gibt dafür kein Beispiel, an dem man sich orientieren könnte, — auch der Tod kann keine Ausnahme sein. Also so lange er für uns — in unserer Wahrnehmung — existiert, existiert auch sein Schatten, der ihm hinterher folgt: die Unsterblichkeit. — Und genauso ist ihr Wesen: sie existiert als Wunsch, Hoffnung, Glaube, Garantie oder zumindest als eine gezwungene Versöhnung mit dem Tod.
— Wenn du dich damit zufrieden gibst, das Offensichtliche nicht zu sehen, bist du blind...
— Boris Yoffe, 13 october 2011 (Brot)
— Fluss. Man kann sie mit den Fingern zählen... — Ein Dutzend Namen gegangener Künstler, die ihre Werke so verzaubern konnten, dass ein weit entfernter, fremder Nachkоmmе sie kennt und mit ihnen lebt. Ja, er hängt von ihnen ab, es ist für ihn lebensnotwendig sich mit ihren Gedanken, ihren Gefühlen auseinanderzusetzen, die nicht einmal auf Papier, Leinwand oder gar im Wehen der Luft aufbewahrt worden sind. Was für eine seltsame, wundersame Eigenschaft haben diese Werke, die weder mit Kultur, noch mit Ethik zutun hat, auch nicht mit einem Wissen — so wie auch letztendlich nicht mit Worten. Diese Auseinandersetzung ist - kann nur - eine streng individuelle, private Sache sein. Es ist meine private Sache, und die Grenzen zwischen mir und diesen fremden Verstorbenen sind verschwommen, wo sie enden und wo ich beginne, weiß ich nicht genau und versuche auch nicht, es herauszufinden (selbst bei dem von mir Geschriebenen).
...Nicht nur ein Mal hörte ich die peinlich banalen Worte: man wird dich nach deinem Tod...
Tatsächlich klingt es zunächst überzeugend, denn der lebende Autor ist nur ein Schatten seiner Werke, eine lebendige Tautologie, neben ihnen ist er überflüssig, fast lächerlich. — Und dann kommt der Tod, der Autor ist weg, nur seine Ideen sind geblieben — obdachlos, suchen sie nach neuem Halt, in der Welt herumziehend. ...Aber es ist auch wieder nicht so, und ich rede lieber nicht weiter, denn das allgemeine Bild von durch die Zeit geprüften Werten unterscheidet sich zu sehr von meiner Vorstellung von Wertvollem und Ungutem, sodass ich am Ende doch nur die Macht des Zufallsanerkennen muss.
— Boris Yoffe, 9 november 2015 (Sand)
|